IHRE DATEN WERDEN VERARBEITET!

Schuld & Auferstehung 2010

Eine Predigt zum Thema: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? - Erbschuld - Glückliche Schuld?

PDF download




Eine Predigt

I
"Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?"

fragte sich der junge Mönch und Doktor der Theologie Martin Luther. Um diese Frage ging es nicht zum ersten Mal in der Geschichte. Schon im Gnadenstreit im 5. Jhd., in dem die Pelagianer dem Menschen die volle Verantwortung für das Seelenheil zusprechen wollten, ging Augustinus als "Lehrer der Gnade" in die Geschichte ein: Das Heil ist ein Geschenk, wie wenn mir jemand einen Rettungsring zuwirft. Daran anhalten muss ich mich freilich schon selbst. Wie es im Brief des Paulus an die Römer heißt: "Der Gerechte wird aus Glauben leben" - also aus dem Vertrauen, aus der Hingabe.

1.100 Jahre später antwortet Martin Luther auf die auch damals wesentliche Frage, dass das Heil "Werk Gottes" und nicht durch gute Werke zu erarbeiten sei, wie es inzwischen zwar Lehre der Kirche war, aber wenig praktiziert wurde. Siehe Ablassbriefe etc., mit denen man meinte, sich das Seelenheil erkaufen zu können. Nach langen inneren Kämpfen kommt der junge Mönch zu der erlösenden Erkenntnis: Man muss sich den gnädigen Gott nicht verdienen, im Gegenteil: Gott ist gerade dem Sünder gnädig, dem Menschen, der unvollkommen ist.

Es gibt nämlich keinen Menschen ohne Schuld. Wir sollten uns das auch nicht vorwerfen. Wir sind so konstruiert. Wo Licht ist, ist auch Schatten. Wir können nicht anders. Schuldgefühle und schlechtes Gewissen, mit dem wir uns zernagen, sind nicht hilfreich. Besser, man nimmt die Schuld auf sich und auch die Folgen - und beschuldigt nicht andere.

Was tut man, wenn man hingefallen ist?
Man steht wieder auf.
Auferstehung.

Öfter als von "Auferstehung" ist in der Bibel ist von Auferweckung die Rede. Oft kommt man ohne Hilfe schwer auf. Das stimmt auch für das Psychische. Wir Psychologen sprechen von "Problem-Trance", d.h. nicht die Probleme selbst sind oft so schlimm, sondern dass wir uns von ihnen hypnotisieren lassen. Wie jener über 80-Jährige, der sich in der Beichte anklagte, im Wirtshaus immer auf den Busen der Kellnerin schauen zu müssen. Ich gab ihm keine Buße auf, sondern ließ ihn ein Dankgebet sprechen dafür, dass er in seinem Alter die Formen der Kellnerin noch so gut sehen könne.

Lasse ich mich aus meiner eigenen Problemtrance wecken und herausreißen? Oder bestehe ich darauf, dass ich schlecht bin und meine Tat unverzeihlich ist?

"Wenn eure Sünde auch blutrot ist,
soll sie doch schneeweiß werden,

und wenn sie rot ist wie Scharlach,
soll sie doch wie Wolle werden."

Jesaja 1,18

Das ist eine wahrhaft frohe Botschaft! Dass die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden - was wäre daran so erfreulich? Das war ja immer so. Aber dass ich inklusive meiner Fehler und Fehltritte akzeptiert bin, dass ich so angenommen bin, wie ich bin - das ist die unglaubliche Botschaft des Jesus von Nazareth. Unzählige Geschichten machen das deutlich im Neuen Testament: der Hirte kümmert sich um das verlorene Schaf, der Vater um den verlorenen Sohn, der Gastgeber lädt die Armen und Krüppel, die Blinden und Lahmen zum Mahl, Jesus verhindert berührend die Steinigung der Ehebrecherin, setzt sich zusammen mit Ausgestoßenen, sogar mit einem Kollaborateur mit der römischen Besatzungsmacht ...

So verfuhren auch die ersten Christengemeinden. Nicht einmal ein Mörder wurde verstoßen. Er musste freilich seine Schuld öffentlich bekennen und bereuen. Dann musste er sich in einem Bußgewand wieder eine Zeit lang unter die Katechumenen mischen, die Neulinge, die gerade eine Einschulung erhielten, bevor er an der Eucharistiefeier wieder als Vollmitglied teilnehmen durfte.

Selbst einer der größten Verbrecher der Menschheit, der hier in Leonding sechs Jahre seiner unglücklichen Kindheit verbracht hat: auch Hitler ist in der Hand Gottes aufgehoben.

Da könnte man nun einwenden: Aber dann muss man ja auf nichts und niemanden mehr Rücksicht nehmen, wenn Gott sowieso jeden ohne Rücksicht auf seine Taten annimmt. Wer so redet, macht deutlich, dass er das noch gar nicht erlebt hat. Wenn Jesus zur Ehebrecherin sagt: "Hat keiner Dich verurteilt?" und sie antwortet: "Keiner, Herr", folgt darauf nicht ihre Verurteilung. Im Gegenteil. Er sagt zu ihr: "Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!" Der letzte Satz soll erinnern, dass der Erkenntnis und der Vergebung der Schuld auch Konsequenzen folgen sollen. Aber er wäre wohl gar nicht mehr notwendig gewesen, weil die Frau das nie vergessen würde, dass Jesus sie vor dem Tod gerettet hat.

Die Mystikerin Thérèse von Lisieux drückte es so aus, dass vor Gott alle Sünden der Welt nur ein Wassertropfen in einer Feuersglut wären. Gott verbrenne alle Schuld, wenn sie vor ihn gebracht wird.

Wer gewohnt ist zu meditieren, kennt die erstaunliche Erfahrung, dass dann ein allumfassendes Wohlwollen Platz greift und man die ärgsten Verletzungen durch andere einfühlen und verstehen kann und sich auch die eigene Schuld in Nichts auflöst.

II
Erbschuld

Als Jesus mit seinem Schülerkreis einem blinden Bettler am Straßenrand begegnet, fragen ihn seine Jünger: "Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, sodass er blind geboren wurde?" Für die Juden, sozusagen unsere älteren Geschwister, war es selbstverständlich, dass aktuelle Probleme mit Schuld zusammenhängen.

Auch in den Stammeskulturen, auch bei unseren Vorfahren, sicher auch bei den Menschen, deren 7.000 Jahre alte Siedlung man hier in Leonding gefunden hat, hatte aktuelles Unglück immer mit einer Abweichung von der Ordnung zu tun, z.B. einem Tabubruch.

Das hat auch Eingang gefunden in die jüdisch-christliche Tradition. Etwa 400 nach Christus hat der Kirchenlehrer Augustinus dafür den Ausdruck "Erbsünde" geprägt. Der Begriff ist etwas unglücklich, denn die Erben haben selbst die Sünde ja gar nicht begangen. Sie müssen nur die Folgen tragen. Ich möchte hier nicht auf die schwierige theologische Deutung eingehen.

Besser ist der Ausdruck: "Erbschuld". Denn das kennen wir: man kann z.B. ein Haus erben, erbt aber dann ggf. auch die vorhandenen Schulden.

Das stimmt auch körperlich: ich erbe z.B. eine robuste Kostitution, aber auch eine Erbkrankheit.

Und das stimmt auch seelisch: unsere Eltern z.B. haben uns nicht nur eine Reihe von Fähigkeiten weitergegeben, sondern auch eine Reihe von Problemen. Wie gesagt: keiner will das, jeder tut's. Wir können nicht anders. Im Gegensatz zu individueller Schuld spricht man hier von "schicksalhafter Schuld".

Wenn meine Mutter sich nicht gewehrt, sondern alles runtergeschluckt hat, werde ich es vielleicht später auch so machen. Wenn mein Vater ein Trinker war, liegt es nahe, dass ich auch einer werde - selbst wenn ich als Kind furchtbar darunter gelitten habe. Das ist unlogisch, aber verständlich: wir nehmen die Menschen, die uns aufgezogen haben, als Modell. Andere haben wir ja nicht. Und wir lernen das Allermeiste durch Nachmachen. Siegmund Freud hat aufgezeigt, wie aktuelle Probleme mit unseren frühen Kindheitserfahrungen zusammenhängen und wie sie so auch gelöst werden können.

Auf den ersten Blick schwerer nachvollziehbar sind freilich generationenübergreifende Zusammenhänge, z.B. wenn ich Krebs kriege, weil sich mein Onkel, den ich gar nicht kannte, selbst gemordet hat. Oder wenn ich schwer depressiv werde, weil meine Großmutter ein Kind verloren hat und darüber nie mehr hinweggekommen ist.

Wieso wissen wir davon? Diese Zusammenhänge sind naturwissenschaftlich nicht so leicht zu erklären, aber durch die Praxis eindeutig bewiesen: nicht nur dass das Auftreten schwerwiegender Symptome psychologisch verständlich wird, sondern oft verschwinden durch die Befreiung von diesen Altlasten auch die aktuellen Leiden.

Man vermutet, dass es so etwas wie ein Sippengewissen gibt. Das heißt: Kinder, Enkel, Neffen, Nichten möchten das Schlimme wieder ausgleichen und wieder gut machen, z.B. dass jemand ausgeschlossen oder verstoßen wurde - nach der Regel: "Lieber geht's mir schlecht als Dir" oder "Das mit Deiner Wut, das erledige schon ich".

Das gilt auch für Übernahme von Schuld, die wie vieles Entscheidende in unserem Leben meist unbewusst geschieht:

Ulrike kommt zu mir mit einem Bündel von körperlichen und psychischen Problemen: Magengeschwür, Schwindelanfälle, Depression mit Selbstverletzung etc. "Wenn ich alleine bin", berichtet sie, "sehe ich seit der Kindheit immer wieder viele Tote rund um mich liegen." Um alles etwas erträglicher zu machen, flüchtet sie in Alkohol- und Drogenexzesse.

In der Therapie fällt ihr ein, dass ihr Großvater bei der SS gewesen war. Über die Nazi-Zeit war aber daheim nie gesprochen worden und der Großvater war ungeschoren davongekommen. Als Ulrike in einem schmerzlichen Prozess, in dem sie auch mit ihren eigenen faschistischen Anteilen in Kontakt kommt, die Schuld ihres Großvaters und die vielen Menschen ins Auge fasst, die er ermordet hatte, tritt eine spürbare Veränderung ein.

Sie betrauert in einem Ritual die Opfer ihres Großvaters, indem sie eine Puppe zerlegt, durch Farbe das Blut darstellt, das vergossen wurde - eine berührende Szene - und für die Ermordeten eine Kerze anzündet. Dadurch sind die Toten erlöst und auch die Patientin ist frei.

Nicht wenige schwere Krankheiten in Deutschland und Österreich sind Folgen der unvorstellbaren Gräueltaten unserer Väter und Großväter. Kam ein Nazi-Verbrecher nach Ende des 3. Reiches ungeschoren davon und sah er seine Schuld noch immer nicht ein, übernimmt eines oder mehrere seiner Kinder oder Enkel die Schuld des Vorfahren und belastet sich mit schweren Krankheiten, besonders häufig mit Depression und Suizid-Tendenz, und zeigt so (blind) die Schuld eines Vorfahren auf und würdigt so (unbewusst) die Leiden der Opfer.

Das kann oft über viele Generationen gehen, wie z.B. auch KollegInnen aus den USA berichten, die noch immer gravierende Auswirkungen der brutalen Unterdrückung und Ausrottung der amerikanischen Urbevölkerung feststellen.

Die Toten wollen, dass ihr entsetzliches Leid und das an ihnen getane Unrecht gesehen und ihr grausamer Tod betrauert wird, dass man ihr Andenken ehrt und Tat und Täter benannt werden - ohne dass man die Schuld der Täter auf sich nimmt und belastet und gebeugt durchs Leben geht. Das wollen sie nicht und davon haben sie auch nichts. Die schlimmen Ereignisse können sogar zum Segen für die Nachkommen werden,

1. wenn man nicht so tut, als ob das Gräuel nicht verübt worden oder nicht so schlimm wäre,

2. andererseits dass man nicht so tut, als ob es heute passierte.

(Diese Haltung ist übrigens allen traumatischen Situationen gegenüber heilsam.)

Alexander kam zur Therapie wegen extremer Kopfschmerzen und einem unerklärlichen Schuldgefühl: "Darin bleibe ich oft tagelang hängen. Ich trage etwas Tiefschwarzes in mir, etwas Unausgesprochenes." Er konnte es sich aber nicht erklären. Auch eine Reihe schwerer Unfälle hatte er bereits hinter sich.

Bei der Behandlung fällt ihm ein, dass der Vater seines Vaters einmal beiläufig erwähnt hatte, dass er als Soldat der Deutschen Wehrmacht in Jugoslawien im Partisanenkampf eingesetzt gewesen sei und seither an entsetzlichen Albträumen leide.

Als durch ein Gruppenmitglied eine ermordete Frau im Raum präsent wird, wird Alexander ruhig. Der Darsteller des Großvaters erkennt: "Ich stand auf der falschen Seite", geht zur Toten und übernimmt vor ihr und seinem Enkel die Schuld an der Ermordung vieler Unschuldiger. Die Darstellerin der Toten hatte sich wie gelähmt gefühlt und entsetzlich gefroren, nun wird ihr wärmer.

Als Alexander zu ihr sagt: "Euer Schicksal entsetzt mich, auch wenn ich nicht schuld bin. Ich zünde eine Kerze für Euch an und behalte Euch in Erinnerung", fühlt sich das Mordopfer frei und leicht: "Jetzt kann ich gehen" und lädt den Großvater ein, sich zu ihnen zu legen. Und plötzlich erlebt sie, was sie nie vergessen wird: "Es wurde auf einmal ganz hell um mich und hunderte Seelen entwichen aus meiner Brust. Ein unglaubliches Glücksgefühl!" Der Raum ist voller Frieden. Alle sind tief berührt.

Es zahlt sich aber aus, die Versprechen an die Toten zu halten.

Leopold, ein schwer depressiver Bauer, erkennt während der Therapie, dass seine Erkrankung wesentlich mit einem schlimmen Ereignis während der letzten Kriegstage zu tun hat: In der Nacht zum 2. Februar 1945 unternahmen ungefähr 500 Häftlinge, fast ausnahmslos sowjetische Offiziere, einen Fluchtversuch aus dem Todesblock des KZs Mauthausen. Polizei und Soldaten jagten und ermordeten mit Hilfe von Zivilisten daraufhin fast alle Entflohenen. Nur wenige wurden unter Gefährdung des eigenen Lebens durch Verstecken gerettet. Dieses Verbrechen ging als "Mühlviertler Hasenjagd" in die Geschichte ein. Auch Leopolds Vater war mit Nachbarn mit dabei.

Der Enkel verspricht, auf seinem Grund eine Kapelle zu errichten, um die ermordeten KZler zu ehren. Die Depression ist wie weggeblasen, aber das Versprechen wird nicht eingehalten. Inzwischen kommen noch zwei seiner Cousins - ebenfalls wegen schwerer Depression und wie sich herausstellt aus dem gleichen Grund - zu mir. Einer von ihnen will acht Jahre nach Leopolds Therapie endlich darangehen, die Kapelle zu bauen. Da legt sich der Bauer quer: "Was denkt sich mein Nachbar, dessen Großvater ja auch mitgemacht hatte und ebenfalls nachher die Mittäterschaft verheimlichen konnte! Können wir sie wenigstens nicht an so exponierter Stelle bauen, wo sie jedem auffällt?" Und er weigert sich auch, die Widmung zur Ehren der ermordeten russischen Soldaten draufzuschreiben.

Daraufhin wird er nach acht Jahren wieder depressiv und total antriebslos. Sein Cousin berichtet später: "3 Tage nach dem Gespräch hat er sich im Wald erhängt. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende: seine Schwester ist ihm im Herbst nachgegangen. Sie hat sich auch erhängt (für sie sollte die Kapelle eine Gedächtnismal für Leopold werden und nicht ein Ort der Erinnerung und des Bittens um Verzeihen für die Schuld der Ahnen)." Der Cousin schreibt weiter: "Die beharrenden Kräfte waren für beide zu stark. Sie sind lieber gestorben, als die Veränderung zuzulassen."

Inzwischen steht die Gedächtniskapelle und wurde unter großer Beachtung des ganzen Ortes feierlich eingeweiht. Die beiden anderen Cousins sind weiterhin vollkommen beschwerdefrei.

Übrigens: nicht nur Lebende, sondern auch manche Verstorbene, wenn sie noch mit den Lebenden verstrickt sind, bedürfen der Erlösung. Die "Psychopomposarbeit", die sichere Hinüberführung der Verstorbenen in die Anderswelt, gehört zu den wesentlichen Aufgaben der indigenen Schamanen. Unsere Vorfahren waren sich wohl schon in der Steinzeit sicher, dass jemand dadurch, dass er gestorben ist, noch nicht automatisch im Reich der Toten angelangt ist. Das haben alle Hochreligionen übernommen. Sonst hätte das Beten für die Verstorbenen - z.B. "Herr, gib ihnen die ewige Ruhe!" - ja keinen Sinn.

Rachel hat seit fünf Jahren - medizinisch nicht erklärbar - schmerzhaft geschwollene Beine, die teils wie voller Blutergüsse, teils wie verbrannt ausschauen.

Ich schlage eine schamanische Behandlung vor. Bei der geht man in einen leichten Trancezustand und stellt sich auf den Patienten ein. Daraufhin erhält man eine Vision, worum es in diesem Fall geht.

Kaum schließe ich die Augen, um das schamanische Heilritual zu beginnen, bin ich ein Jude, voll unermesslicher Traurigkeit. Ich erlebe ein Pogrom im Mittelalter und kann die unzähligen Toten, die ich vor mir sehe, nicht in Ruhe betrauern und gemäß unseren Traditionen beerdigen, während die Christen geifern oder ihre Schuldgefühle pflegen. Erst am Ende der langen und sehr schmerzlichen Sitzung kehrt allmählich Friede ein und ich kann als Schamane die Toten bewegen, nicht weiter Rachels Beine festzuhalten. So dass am Ende die Ermordeten frei sind, aber auch Rachel, deren Symptome schon in den nächsten Tagen auch medizinisch nicht mehr nachweisbar sind.

Ginge es immer so schnell, stellte die übliche Medizin und Psychotherapie mit den oft länger dauernden schmerzlichen Prozessen eine furchtbare und unnötige Quälerei des Patienten dar. Dem ist aber nicht so. Häufig sind mehrere Behandlungen nötig, bis jemand symptomfrei wird oder anders mit seiner Krankheit umgehen kann.

Auch bei den Nachkommen der Opfer geht es also darum, die Leiden und Schmerzen der Vorfahren zu würdigen, aber nicht zu übernehmen bzw. die Toten zu bitten, die Lebenden loszulassen - wodurch dann beide frei sind.

Zusammenfassend: Viele von uns belasten sich durch die Schuld ihrer Ahnen. Man muss sich aber nicht gebeugt durchs Leben quälen. Ich darf aufstehen. Wie? Ich würdige die Opfer nicht mehr, indem ich ihnen nachfolge und praktisch wie mit einem Fuß im Grab lebe, sondern indem ich über sie rede, für sie vielleicht ein kleines Ritual mache, ihr Andenken wahre und sie in meinem Herzen bewahre. Ich gebe dem Täter die Schuld und die Folgen der Schuld wieder zurück, egal ob er inzwischen geläutert ist und seine Taten bereut oder ob er (bereits verstorben oder noch in dieser Welt) noch immer seine Verbrechen nicht einsieht. So werde ich frei und erlöst von der alten Last.
III
Glückliche Schuld

Abgesehen davon, was wir - im Nachhinein gesehen - auch von unseren eigenen Fehlern profitieren können (selbst in der Wissenschaft lernen wir durch Versuch und Irrtum):

Es gibt einen Text aus dem 4. Jahrhundert, das "Exultet", mit dem in der Osternacht Christus als das Licht der Welt besungen wird - auf deutsch: "Frohlocket, Ihr Chöre der Engel". Darin kommt eine unglaubliche Zeile vor: "O felix culpa,_quae talem ac tantum meruit habere Redemptorem" - "O glückliche Schuld, die einen so großen Erlöser verdiente".

In ähnlicher Weise heißt es im Evangelium des Johannes sogar von Judas Iskarioth, dass dieser ihn verraten musste(!) "Ich weiß wohl, welche ich erwählt habe, aber das Schriftwort muss sich erfüllen: Einer, der mein Brot aß, hat mich hintergangen." So gesehen hatte die Schuld des Judas eine wesentliche Funktion im Heilsplan Gottes für die Menschen.

Jesus antwortete übrigens seinen Schülern auf ihre Frage wegen des blinden Bettlers: "Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden." Dann macht er ein schamanisches Heilritual für ihn.

Es ist erstaunlich, dass tatsächlich aus etwas Schlimmen etwas Gutes werden kann. Schon der griechische Philosoph Platon hatte sich den Kopf zerbrochen, wie dies gemacht werden könnte. Es ist möglich. So erfahren wir immer wieder in unserer psychotherapeutischen Arbeit, dass auch lästige Symptome z.B. ein ausgeprägter Perfektionismus eine gute Absicht haben und dass sogar Schuld positive Auswirkungen haben kann z.B. wenn die Mordopfer des Großvaters auf einmal für mich so etwas wie Schutzengel werden.

O glückliche Schuld, die mir sogar zum Segen wird!

Predigt in der Evangelischen Lukaskirche in Leonding am 24. Jänner 2010