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Schamanische Psychotherapie 2010

Persönliche und psychologische Annäherung an eine uralte Ressourcenarbeit

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Persönliche und psychologische Annäherung an eine uralte Ressourcenarbeit

Wir sehen, was wir glauben,
nicht umgekehrt.

Und um das zu verändern, was wir sehen,
müssen wir manchmal das verändern,
was wir glauben.

Jeremy Narby

Der Völkerkundler und Psychologe Holger KALWEIT (1999) meint: "Die schamanische Kenntnis des Psychischen ist verquickt mit einer Kosmologie und Metaphysik, die die moderne Psychologie so weit hinter sich gelassen hat, dass ein Dialog kaum mehr möglich ist." Ich glaube aber schon an eine fruchtbringende Auseinandersetzung und finde sie wichtig für beide Seiten.

Da ich sowohl psychologische wie schamanische Heilverfahren anwende, musste ich diese doch sehr unterschiedlich erscheinenden Richtungen auf Kompatibilität prüfen - schon, um innere Konflikte zu vermeiden.

Als ich mich das erste Mal intensiver mit Schamanismus befasste, war ich fasziniert von der Tatsache, dass ich wesentliche Heilungspraktiken (unter anderen Namen) bereits seit vielen Jahren kannte und (wenn auch nicht in identischer Form) praktizierte:

z.B.
* die Seelenteil- oder Krafttier-Rückholung kannte ich von der Reintegration abgespaltener Persönlichkeitsanteile,

* die Traumbearbeitung wird auch in manchen Stammeskulturen wie in der Gestalttherapie durch szenische Darstellung der einzelnen Traumelemente durchgeführt,

* die in schamanischen Heilritualen selbstverständlich beachteten systemischen Zusammenhänge kannte ich von Virginia Satir's ebenfalls generationenübergreifender Familienrekonstruktion oder Bert Hellinger's Familienaufstellung.

* Weiters entspricht etwa das Stein-Orakel und ähnliche Methoden den projektiven Verfahren in der Psychologie z.B. dem Rorschachtest.

* Interessant fand ich, dass der Begründer des Autogenen Trainings, der Deutsche Johannes H. Schultz, mit dem Übungseinstieg "Der Weg auf die BergeshöheÒ, wo man den weisen Mann oder die weise Frau trifft, denen man auch Fragen stellen kann, eine der schamanischen Hauptmethoden, nämlich die ãSchamanische Reise zu seinen Lehrern und FührerinnenÒ eingebaut hat. Allerdings, wie ich überprüft habe, nicht auf die Idee gebracht durch Kontakte mit oder Literatur über schamanische Traditionen, sondern weil er als Hypnosearzt diese inneren Helfer immer wieder in seiner Arbeit bei PatientInnen erlebt hatte.

In vielen Psychotherapierichtungen wird nicht nur verstandesmäßig an die Lösung der Probleme herangegangen, sondern es werden verschiedenste Formen veränderter Bewusstheitszustände (üblicherweise des Klienten) genützt (Dirk REVENSTORF, 2000). Auch schamanisch wird nicht nur das Denken als Quelle von Erkenntnis genutzt, sondern - in anderen Bewusstheitszuständen (v.a. des Behhandlers) - in uns wohnendes Wissen gehoben.

Der Anthropologe Claude Lévy-Strauss hat als einer der ersten den Schamanismus auf die gleiche intellektuelle Ebene gestellt wie die westliche Wissenschaft. Statt Schamanismus und Wissenschaft gegeneinander auszuspielen, ist es gemäß Lévy-Strauss adäquater, sie als zwei parallele Methoden zur Erlangung von Wissen zu betrachten.

1980 wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) dem Schamanismus in der Behandlung von psychosomatischen Krankheiten dieselbe Bedeutung zuerkannt wie der westlichen Medizin.

Der Schamanismus ist mit einem wahrscheinlichen Alter von über 30.000 Jahren aber nicht nur die älteste Form von Religion und Medizin, sondern auch der Psychotherapie. Dass die westliche Psychotherapie von vielen schamanischen Elementen durchdrungen ist, erklärt sich auch dadurch, dass viele Gründer und Vertreter von Therapierichtungen, wie C.G. Jung, Fritz Perls usw. nicht nur über andere Kulturen gelesen haben, sondern auch durch persönliche Kontakte beeinflusst wurden.

Der schamanischen Psychotherapie - die übrigens praktisch nie in Einzelsitzungen erfolgt - sehr nahe kommt die "Humanistische Psychologie", in der das Unbewusste als unerschöpfliches Potential des Menschen aufgefasst wird, als die Fülle der Weisheit, die jeder in sich trägt. Ihre Vertreter entwickelten verschiedene Methoden, an diese heranzukommen.

Abraham MASLOW (1982): "Es ist, als hätte Freud uns die kranke Hälfte der Psychologie geliefert, die wir jetzt mit der gesunden Hälfte ergänzen müssen." Er stellte auf seiner Bedürfnishierarchie nach Grundbedürfnissen, Sicherheit, sozialen Bedürfnissen und sozialer Anerkennung an die oberste Stelle die Selbstverwirklichung, zu der er später auch mystische Erfahrungen zählt: "Die emotionale Reaktion bei Grenzerfahrungen hat einen besonderen Beigeschmack des Wunders, der Scheu, der Ehrfurcht, der Bescheidenheit und der Auslieferung an die Erfahrung als an etwas Großes."

Das kommt der schamanischen Sichtweise sehr nahe.
Wie behandelt man schamanisch?

Jedermann kann seine Vorstellungskraft so schulen und einrichten,
dass er in Berührung mit Geistern kommt und
von ihnen unterwiesen werden kann.

Paracelsus

Die in den Stammeskulturen durchgeführten Heilrituale wirken für unsere Augen auf den ersten Blick exotisch, manchmal abstoßend. Man denkt an Aberglauben und eigentümliche magische Praktiken, die wir als Kinder der Aufklärung längst hinter uns gelassen haben.

Erst bei näherer Betrachtung entdeckt man, was bei solchen Ritualen überhaupt passiert. Der Anthropologe Michael HARNER (1994) hat erforscht, dass eine ganze Reihe von wesentlichen Prinzipien schamanischer Heilarbeit praktisch in allen Kulturen bekannt sind und angewendet werden. Er ging der Frage nach: Was ist bei den SchamanInnen in allen Weltteilen gleich? Diesen Core-Schamanismus (das Wesentliche, den Kern des Schamanismus) begann er auch zu lehren - in einer für uns westlich Sozialisierte nachvollziehbaren und zugänglichen Form.

Kurz ausgedrückt: Es handelt sich um eine Form der Ressourcenarbeit. Wörtlich übersetzt heißt Ressource übrigens: ãZurück zur QuelleÒ.

Im Gegensatz zur klassischen Hypnose geht aber meist nicht der Patient, sondern der Therapeut in einen Trancezustand, um aus diesen Quellen zu schöpfen. Er reduziert das Denken und seine Absichten, um hellhörig zu werden für die Botschaften, die aus dem Unbewussten über den Patienten aufsteigen. Er nützt so seine inneren Ressourcen, um Diagnose und Therapie für den Patienten zu erhalten. Schamanisch ausgedrückt erhält er diese Informationen von seinen Geistführern.

Ich schließe also die Augen, stelle mich auf die Klientin ein und sehe dann wie in einem Traumbild, wie es um sie steht. Je nach den Impulsen, die ich wahrnehme, kann ich dann - rituell - oft das Bild heilsam verändern.

Ein Beispiel:
Die Ärzte finden keine Möglichkeit, die seit fünf Jahren schmerzhaft geschwollenen Beine der Jüdin Rachel zu behandeln. Sie schauen teils wie voller Blutergüsse, teils wie verbrannt aus. Kaum gehe ich in Trance, um die Behandlung zu beginnen, bin ich ein Jude, voll unermesslicher Traurigkeit. Ich erlebe ein Pogrom im Mittelalter und kann die unzähligen Toten, die ich vor mir sehe, nicht in Ruhe betrauern und gemäß unseren Traditionen beerdigen, während die Christen geifern oder ihre Schuldgefühle pflegen. Erst am Ende der langen und sehr schmerzlichen Sitzung kehrt allmählich Friede ein und ich kann die Toten bewegen, nicht weiter Rachels Beine festzuhalten. So dass am Ende die Ermordeten frei sind, aber auch Rachel, deren Symptome bis heute auch medizinisch nicht mehr nachweisbar sind. Die Informationen und Handlungsaufträge erhielt ich von meinen mich führenden Instanzen in der Anderswelt.

"Die Welt der Geistwesen, mit denen man während des Reisens in Kontakt kommt, ist nichts Anderes als die Landschaft des kollektiven Unbewussten" sagt die amerikanische Psychotherapeutin Jeannette M.GAGAN (2000), die wie ich auch schamanische Heilmethoden anwendet. Wer die oft spektakulären schamanischen Phänomene unserem Unbewussten nicht zutraut, der hat es eben unterschätzt. Manchmal kommen alte Verletzungen zum Vorschein und werden so behandelbar - freilich nicht in einer einzigen Sitzung:

Sissy sagt: ãIch zweifle immer an mir und bin so rastlos. Ich möchte so gern zu einem inneren Frieden kommen.Ò In meinem veränderten Bewusstheitszustand sehe ich eine giftige schwefelgelbe Wolke über ihr. Meine spirituellen Führer beauftragen mich, Sissy auf den Boden legen und zudecken zu lassen. Sie solle sich tot stellen, dann würde ihr nichts passieren. Ich locke und führe die als männlich identifizierte Wolke hinaus ins Freie, weit weg. Sissy soll nun ihren Impulsen folgen. Sie windet sich aus der Decke, schluchzt und schreit: ãHör auf!Ò ãGeh weg!Ò Immer wieder. Ich solle ihr bewusst machen: ãEs ist vorbei!Ò

Die Botschaften können, wie von Stanislav GROF (1978) in seiner "Topographie des Unbewussten" beschrieben, die gegenwärtige Lebenssituation oder die frühere Lebensgeschichte, die frühe Kindheit, die perinatale Periode oder die embryonale und fötale Existenz betreffen, aber auch aus transindividuellen, transpersonalen und transhumanen Quellen stammen.

Wie in Medizin und Psychotherapie schaffen es auch nach einer schamanischen Behandlung manchmal Patienten nicht, den Weg aus der Krise zu wagen:

Leopold, ein schwer depressiver Bauer, erkennt während der Therapie, dass seine Erkrankung wesentlich mit einem schlimmen Ereignis während der letzten Kriegstage zu tun hat: In der Nacht zum 2. Februar 1945 unternahmen ungefähr 500 Häftlinge, fast ausnahmslos sowjetische Offiziere, einen Fluchtversuch aus dem Todesblock des KZs Mauthausen. Polizei und Soldaten jagten und ermordeten mit Hilfe von Zivilisten daraufhin fast alle Entflohenen. Nur wenige wurden unter Gefährdung des eigenen Lebens durch Verstecken gerettet. Dieses Verbrechen ging als "Mühlviertler Hasenjagd" in die Geschichte ein. Auch Leopolds Vater war mit Nachbarn mit dabei. _

Der Enkel verspricht, auf seinem Grund eine Kapelle zu errichten, um die ermordeten KZler zu ehren. Die Depression ist wie weggeblasen, aber das Versprechen wird nicht eingehalten. Inzwischen kommen noch zwei seiner Cousins - ebenfalls wegen schwerer Depression und wie sich herausstellt aus dem gleichen Grund - zu mir. Einer von ihnen will acht Jahre nach Leopolds Therapie endlich darangehen, die Kapelle zu bauen.

Da legt sich der Bauer quer: "Was denkt sich mein Nachbar, dessen Großvater ja auch mitgemacht hatte und ebenfalls nachher die Mittäterschaft verheimlichen konnte! Können wir sie wenigstens nicht an so exponierter Stelle bauen, wo sie jedem auffällt?" Und er weigert sich auch, die Widmung zur Ehren der ermordeten russischen Soldaten draufzuschreiben._Daraufhin wird er nach acht Jahren wieder depressiv und total antriebslos.

Sein Cousin berichtet später: "3 Tage nach dem Gespräch hat er sich im Wald erhängt. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende: seine Schwester ist ihm im Herbst nachgegangen. Sie hat sich auch erhängt (für sie sollte die Kapelle eine Gedächtnismal für Leopold werden und nicht ein Ort der Erinnerung und des Bittens um Verzeihen für die Schuld der Ahnen)."

Der Cousin schreibt weiter: "Die beharrenden Kräfte waren für beide zu stark. Sie sind lieber gestorben, als die Veränderung zuzulassen."_Inzwischen steht die Gedächtniskapelle und wurde unter großer Beachtung des ganzen Ortes feierlich eingeweiht. Die beiden anderen Cousins sind weiterhin vollkommen beschwerdefrei.

Obwohl sich gelegentlich sogar Tumore rückbilden oder medizinisch nicht mehr behandelt werden müssen: auch schamanische Behandlungen sind keine Wundermittel und zeigen manchmal nur geringfügige Wirkung oder erst nach längerer Behandlungsdauer. Und manchmal besteht der therapeutische Auftrag darin, mit seiner Krankheit leben oder auch gut sterben zu lernen.

Andererseits können aber auch spirituelle Begabungen aufgedeckt werden:

Vor zehn Jahren kam Sonja zu mir, eine Schülerin der Oberstufe, die seit geraumer Zeit an Epilepsie, u.zw. an dem Grand Mal, litt. Da dies seit alters her oft als Berufungskrankheit erlebt wird, lade ich sie ein zu einem schamanischen Heilseminar.

Bei einer schamanischen Reise erscheint ihr ein Löwe, der zu ihr sagt: "Glaube endlich an Deine Kraft!" Und in einem Nachttraum wollen Lichtgestalten sie wegzerren: Sie wehrt sich.

Dann mache ich mit der Gruppe eine schamanische Heilbehandlung für sie. Kaum mache ich die Augen zu, sehe ich eine Menge mächtiger Frauen über Sonja. Ich frage sie, warum sich ihre Heilkraft noch nicht durchgreifend auf Sonja auswirkt. Sie antworten: "Es spießt sich im Kopf." Das kann ich (rituell) leicht bereinigen. Dann sehe ich das Hindernis in ihrem Herzen, es ist vor allem Sonjas große Angst vor dem vielen Schlimmen, dem sie begegnen wird, wenn sie ihrer Heilberufung folgt. Die Hauptbotschaft, die ich erhielt und Sonja mitteilen sollte: Wenn Du zu heilen anfängst, werden die Anfälle aufhören. Zum Abschluss der Sitzung sollte ich sie bitten, jeden von uns zu segnen. Was sie auch tat.

Es kam so, wie es mir in der Vision gesagt worden war: Als sie ziemlich widerwillig und ganz selten zu heilen begann, reduzierte sich die Frequenz der Anfälle. Seit sie nun regelmäßig Heilsitzungen hält, hat sie keine epileptischen Anfälle mehr. Als sie einmal wieder eine längere Pause einlegte, kamen in dieser Zeit die Anfälle wieder.

Während PsychotherapeutInnen v.a. mit destruktiven Persönlichkeitsanteilen und Ressourcen arbeiten, kontaktieren SchamanInnen (in Trance) Dämonen und gute Geister. Bei allen Unterschieden in den Weltbildern und den äußeren Formen - meine Erfahrung führt mich zu der Annahme, dass es sich um dieselben Vorgänge handelt, die einmal intrapsychisch und einmal extrapsychisch gedeutet und erlebt werden. Wie wenn man das Gleiche in verschiedenen Sprachen ausdrückt - inkl. der damit verbundenen Traditionen, Bilderwelten, gedanklichen Konstruktionen und Gefühle.

So sind die theoretischen Erklärungen, wie auch die Rituale und die dazu gehörigen Vorstellungsbilder recht verschieden und ich könnte nicht sagen, welche Erklärung mehr stimmt oder, ob überhaupt eine stimmt. Das stört aber meine Heilpraxis nicht, weil ich mich auf das verlasse, was wirkt - und in der Wirkung merke ich keine Unterschiede. Ob ich "die Weisheit des (kollektiven) Unbewussten" zur Problemlösung nütze oder mich von "guten Mächten" inspirieren lasse, die - psychologisch gesehen - als Entitäten außerhalb projiziert werden: Was die Wirkung betrifft, scheint es unerheblich zu sein, wie man darüber denkt. Aus konstruktivistischer Sicht geht es ja ohnehin "nur" um die Frage, wie hilfreich eine Wirklichkeitskonstruktion ist.

Interessanterweise haben auch manche indigenen Schamanen kein Problem, diese auf den ersten Blick so verschieden anmutenden Sichtweisen zu verbinden, wenn z.B. Papa Eli aus Burkina Faso oder der von den mexikanischen Huichol initiierte Brant Secunda und andere, die ich traf, übereinstimmend sagen, dass ja die Geister in uns sind.

Der Psychiater, Philosoph und Anthropologe Roger N. WALSH (1992) deutet die Geister, die sich als wertvolle Quelle von Wissen, Orientierung und Weisheit entpuppen, "einmal als normale Subpersönlichkeiten, wie die traditionelle Psychologie, zum andern aber auch als transzendente Aspekte der Psyche 'über und jenseits' des Ego ... Beispiele aus dem Westen wären etwa das höhere Selbst, der transpersonale Zeuge, das Jungianische Selbst, das der Kern der Psyche ist, und der innere Selbsthelfer, eine hilfreiche und offenbar transpersonale Persönlichkeit, die bei 'multipler Persönlichkeit' vorkommt."

Wären schamanische Behandlungen nicht meist äußerst wirksam, dass wie im Falle von Rachel sogar gelegentlich nach einer einzigen Behandlung bleibend die Symptome verschwinden, würde man diese Vorgangsweise für Fantasiespiele halten. Auf Grund meiner naturwissenschaftlichen Ausbildung begegnete ich solchen Phänomenen anfangs mit gehöriger Skepsis. Aber der seriöseste methodische Zweifler wird zum Ignoranten, wenn er Fakten nicht anerkennt, auch wenn er sie naturwissenschaftlich nicht erklären kann.

Fachleute sagen ja, dass eine Gitarrenseite - einmal gezupft - nie wieder aufhören wird zu klingen, auch wenn wir den Ton mit unseren Ohren bald nicht mehr wahrnehmen. Theoretisch sei es möglich, mit einem sensiblen Messgerät Töne hörbar zu machen, die vor hunderten Jahren erklungen sind. Haben wir in Trance etwa diese Fähigkeit?

Gibt es Indikationen für schamanische Heilarbeit?

"Jedes Kranksein ist ein Überschreiten einer Schwelle in ein neues Leben"

Carlo Zumstein

Grundsätzlich richte ich mich nach den Wünschen der PatientInnen, um jede in ihrer ãSpracheÒ anzureden. Andererseits halte ich mich an das Gestaltprinzip, dass normaler Weise immer das hilft, was einem fehlt: Wer bisher unter Anstrengung alles alleine zu meistern versucht hat, erhält am ehesten eine schamanische Heilbehandlung, damit er lernt, sich auch beschenken zu lassen - durch mich und die Gruppe, die ebenfalls eingeladen wird, bei der Behandlung mitzumachen. Wer hingegen nicht gewohnt ist, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen und immer auf andere schiebt und delegiert, wird von mir eher zu psychotherapeutischer Arbeit eingeladen, da in der Psychotherapie die Hauptlast der Heilungsarbeit ja beim Patienten liegt, im Schamanismus aber zunächst beim Schamanen. Der oft schmerzliche Entwicklungsprozess bleibt aber auch bei schamanischem Vorgehen dem Patienten leider nicht erspart.

Bei Beziehungsproblemen bevorzuge ich systemtherapeutische Behandlungsformen, weil hier die Selbsterkenntnis und die Sicht auf den Eigenanteil am Konflikt gefördert wird und der Lösungsschritt leichter vollzogen werden kann, wenn er vom Klienten selbst entdeckt und erkannt wurde.

Besonders indiziert finde ich schamanische Heilarbeit bei Psychosen, da ich z.B. bei einem Schizophrenen an den Wurzeln arbeiten kann, ohne ihn in einen Schub zu treiben. Das Tor zur Anderswelt ist bei ihm längst offen (andere müssen das erst zu öffnen lernen), aber - schamanisch ausgedrückt: er bringt es nicht mehr zu. Hier sind alle Methoden sinnvoll, die den Patienten erden durch Soziotherapie etc. und, dass er diszipliniert Stimmen etc. in die Schranken zu weisen lernt. Man wird ihn nicht in der akuten Phase schamanisch zu reisen lehren (so nennt man üblicherweise die schamanische Form der Meditation), weil er diese Bilder in sein Wahnsystem einbauen würde. Ist er allerdings bereits ein wenig gefestigt, sind ihm verlässliche Helfer aus der Anderswelt eine wirkliche Stütze.

Auch bei Epilepsie zahlt es sich aus, schamanisch zu überprüfen, ob nicht eine Heilberufung vorliegt (s.o. das Beispiel von Sonja).

Wenn jemand nach einer Fülle von Behandlungsversuchen noch wenig vorangekommen ist, empfiehlt sich auf jeden Fall eine schamanische Arbeit, um eventuelle schwer eruierbare Hintergründe angehen und verwandeln zu können.

Ich wechsle auch öfters die Behandlungsformen - je nachdem, welche mir aktuell am effizientesten erscheint.

Wo kommen diese Bilder her?

Man sieht nur mit dem Herzen gut.
Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar

sagt der Fuchs zum kleinen Prinz im gleichnamigen Buch von
Antoine de Saint Exupery

Schamanisch ist die Frage leicht erklärt, weil man annimmt, dass alles Existierende mit allem Anderen in Verbindung steht. So kann man diese Verbindungswege auch nützen, um nachzuschauen, was in jemandem bzw. etwas anderem los ist und kann es auch beeinflussen.

Man könnte sagen: Wenn die ganze Festplatte des Seins in mir ist, kann ich im Prinzip jedes einzelne Element aktivieren, z.B. auch die Krankheit eines Patienten. Man muss dazu nur das Denken reduzieren und sich auf den Weg zum Anderen machen. Das würde dem Prinzip des Hologramms entsprechen, wo jedes Element das Ganze enthält.

Wie in jeder Körperzelle alle wesentlichen Informationen des gesamten Organismus gespeichert und prinzipiell abrufbar sind, könnte auch in jedem Teil des Universums die gesamte Information vorhanden sein. In eine ähnliche Richtung führt ja C.G. JUNGs Konzept des "Kollektiven Unbewussten".

Der Begriff "Das Unbewusste" eignet sich m.E. besonders gut, weil er ja nichts über sich aussagt, sondern nur, dass seine Inhalte und Vorgänge nicht bewusst sind - die aber durch tiefenpsychologische, schamanische und andere Methoden ans Licht des Bewusstseins gebracht werden können.

Auch in der Hypnotherapie wird "Das Unbewusste" als geeignete Metapher für sonst schwer definierbare Ressourcen begrüßt, aber auch in Frage gestellt; z.B. macht sich Gunther Schmidt über die "Verdinglichung" lustig: "Wenn Sie Ihr Unbewusstes treffen, grüßen Sie es von mir!"

Man könnte auch von Intuition sprechen. Vielleicht tut es gut, nach der etwa fünfhundertjährigen Überbetonung der Vernunft und der fast ausschließlichen Wertschätzung des Denkens und Lenkens nun wieder den Wert des anderen Pols zu erkennen. Im Duden finden wir z.B. unter "Intuition": "unmittelbare ganzheitliche Sinneswahrnehmung, ohne Reflexion entstandene Erkenntnis des Wesens eines Gegenstandes". Manchmal wird sie als "Wissen ohne Wissen" bezeichnet.

Wolfgang Amadeus Mozart und Johann Wolfgang von Goethe berichteten übereinstimmend von Einfällen in Überfülle, die in bestimmten Augenblicken kamen, die sie aber nicht herbeizwingen konnten.

Intuition spielt aber nicht nur im Wirken des Künstlers eine entscheidende Rolle: Manche knifflige wissenschaftliche Probleme wurden auf diesem Weg gelöst, worauf nicht nur Albert Einstein verwiesen hat. Z.B. berichtete der Chemiker August Kekulé, dass er die Ringstruktur des Benzols durch Bilder von Schlangen, die ihm im Halbschlaf gekommen waren, entdeckt hatte, und auf ähnliche Weise entschlüsselte Melvin Calvin die Geheimnisse der Photosynthese.

Diese bei jedem Menschen vorhandene Fähigkeit kann man auch bewusst trainieren und nützen. Unsere frühen Vorfahren haben in der Nutzung dieser Erkenntnisquelle über Jahrtausende Erfahrungen gesammelt. Für die Begabtesten in den Stammeskulturen wurde diese sensitive Fähigkeit zum Beruf. Man lernte, solche Eingebungen bewusst herbeizuführen. Und zwar nicht nur zum Heilen.

Als SchamanInnen werden Personen bezeichnet, die in Stammeskulturen eine dem Priester ähnliche spirituelle Funktion einnehmen. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Verbindung ihres Volkes mit der übrigen Natur und den transzendentalen Welten aufrecht und in Harmonie zu halten. Sie behandeln Kranke, führen die Verstorbenen ins Reich der Toten und fördern den sozialen Frieden und Zusammenhalt. Obwohl nicht jede Schamanin alles macht und es auch hier Spezialisierung gibt, haben sie meist vielfältige Aufgaben zu bewältigen: Sie haben priesterliche Funktionen, die an den Schnittstellen des Lebens wie Geburt, Erwachsenwerden, Heirat und Tod auf den Plan treten; sie sind Propheten und Schicksalskundige, geistliche Führer und Berater des Häuptlings und des Stammes. Sie beschwören Jagdglück, Wetter und die Fruchtbarkeit der Erde und begleiten ihr Volk durch die Jahreszeiten-Rituale.

Ihre Methoden (in der schamanischen Sprache: Befragung der Geister) könnten übrigens auch bei uns nicht nur zur Behandlung von Krankheiten eingesetzt werden, sondern auch zur Lösung politischer, wirtschaftlicher, sowie künstlerischer, wissenschaftlicher oder technischer Fragestellungen. Die Antworten entsprechen allerdings nicht immer dem, was man vorher vermutet und sich gedanklich zurecht gelegt hatte. Sie kommen außerdem oft nicht in "digitaler" Form, sondern "analog" in Form von Bildern, die erst entschlüsselt werden müssen.

Susanne mailte mir vor einiger Zeit: "Ich sah Würmer unter meinem Weisheitszahn, damit konnte ich nicht wirklich was anfangen. Als ich in der darauf folgenden Nacht träumte, dass sehr viele Ameisen im Mund diese Würmer auffraßen, streckte ich die Fühler nach einem Zahnarzt aus und vereinbarte einen Termin. Röntgen und Untersuchung ergaben, dass der Zahn ok wäre und ich bestand dennoch drauf, dass er rausgerissen wird. Wir staunten beide nicht schlecht, als am Zahn eine Zyste dranhing, die fast gleich groß war wie der Zahn selbst. 'Höchste Zeit' war der Kommentar des Zahnarztes. Du kannst Dir vorstellen, wie dies mein Vertrauen in meine Intuition gestärkt hat."

Man fragt man sich natürlich: Sind meine Visionen während einer Behandlung nicht bildhafte Repräsentationen dessen, was ich vorher beim Klienten mit meinen Sinnen wahrgenommen habe?

Wieso kann ich aber dann in Trance z.B. Unterleibsprobleme sehen, von denen ich gar nichts wusste und die ich vorher auch nicht gesehen haben kann? Und wieso kann ich bei einer Fernbehandlung etwas von einem im Koma liegenden Patienten wahrnehmen und verändern, was von den Angehörigen bestätigt wird, obwohl ich ihn noch nie gesehen habe?

Psychotherapeutische KollegInnen berichten immer wieder, dass Angehörige von KlientInnen nach der Therapiesitzung reagieren, als ob sie dabei gewesen wären, dass z.B. nach einer in der Vorstellung vollzogenen Versöhnung mit dem verschollenen Vater dieser erstmals die Klientin anruft. Ähnliche Phänomene kennen wir auch aus der systemischen Aufstellungsarbeit und ähnlichen Methoden.

Ich gehe davon aus, dass es über die wissenschaftlich gut untersuchte verbale und nonverbale Kommunikation hinaus noch andere Kommunikations- bzw. Informationswege gibt, die man beim schamanischen Arbeiten, aber auch z.B. in der Aufstellungsarbeit etc. nützt, welche man heute aber noch nicht nachweisen kann.

In der Tradition spricht man vom "blinden Seher", der gerade deshalb viel erkennt, weil er seine Augen dazu nicht benützen kann.

Wie kann man die Wirkung erklären?

"Die Säkularisierung
hat weniger die Funktion eines Filters,
der Traditionsgehalte ausscheidet,

als die eines Transformators,
der den Strom der Tradition umwandelt"

Jürgen Habermas

Dass durch Psychotherapie, Hypnose etc. nicht nur psychische, sondern oft auch körperliche Zustände beeinflusst werden können, ist allgemein bekannt.

Suggestion und der Placebo-Effekt spielen sicher, wie nachgewiesener Weise in der westlichen Medizin und Psychotherapie, auch bei schamanischen Ritualen eine ganz wichtige Rolle.

Nach Martin E. P. SELIGMAN (1995) kann eine Reihe von Problemen, z.B. depressive Störungen, auch damit erklärt werden, dass man sich hilflos Situationen ausgeliefert fühlt, die man weder erklären noch beeinflussen kann, sondern auf die eigene Unfähigkeit zurückführt. So hilft es sicher oft, wenn z.B. ein Problem als durch ungünstige Einflüsse aus der Geisterwelt erklärt wird, die nun von der Schamanin auf dieser Ebene behandelt werden. Wenn man wie ich die Welt der Geister als Projektion des Seelenlebens auffasst, nimmt es auch aus psychologischer Sicht nicht Wunder, dass bemerkenswerte Heilungsfortschritte erreicht werden können.

Die Trennung von Problem und Person in Verbindung mit Ressourcenarbeit ist Bestandteil verschiedenster Psychotherapieansätze v.a. in der Behandlung von Traumatisierten. In der Gestalttherapie kommuniziert man - wie in der schamanischen Tradition - mit den nach außen projizierten Symptomen und Problemen. Wenn in einer Familientherapie alle gemeinsam z.B. mit der Krankheit eines Familienmitgliedes Verhandlungen führen, ist dies meist sehr verbindend und entlastet den identifizierten Patienten.

Erich ROTH (2007) fasst den Aufsatz "Trance, Functional Psychosis and Culture" von Richard J. Castillo zusammen, in dem er berichtet, "dass der Heilerfolg bei Psychosen im indigenen Bereich zehn Mal größer als in der westlichen Kultur ist. Die Ursache ... sieht Castillo darin begründet, dass nach dem indigenen kulturellen Kontext der Kranke von einer Krankheit befallen wird (durch Verhexung und Magie), wogegen im nord-westlichen Kulturkontext der Kranke selbst an seiner Erkrankung Schuld trägt und diese meistens als Folge einer biologischen Manifestation dargestellt wird. Aus diesem Grund liegt es nahe zu sagen, es sei einfacher, einen Hexen- oder Magiebann zu heilen, zu entfernen, zu extrahieren ..., als eine Krankheit mit biologischer Manifestation zu heilen, zu entfernen."

Carlo ZUMSTEIN (1999) fand Hinweise, dass man schwere Depressionen als missglückte und stecken gebliebene schamanische Reisen in die Anderswelt sehen und auch so behandeln kann.

Der Placebo-Effekt kann viele, aber nicht alle Phänomene erklären - insbesondere, wenn Bewusstlose, Pflanzen, Tiere oder Materie schamanisch beeinflusst und verwandelt werden.

Vielleicht geht es um den gleichen erstaunlichen Vorgang, wie wir ihn von dem Japaner Masaru EMOTO (2005) kennen, der durch Kristallfotografien aufzeigen konnte, welche Wirkung Worte und Gedanken (nachgewiesen auch auf Entfernung) auf Materie, in dem Fall auf Wasser, haben können: Negative Worte entstellen die kristalline Struktur der Wasser-Moleküle, während positive Worte Kristallbilder entstehen lassen, die von überwältigender Schönheit sind.

Obwohl die Quantentheorie nach Carl Friedrich von Weizsäcker den Dualismus des Philosophen, Mathematikers und Naturwissenschafters René Descartes längst bestreitet, denken wir heute allenthalben noch dualistisch. Descartes hatte unterschieden zwischen der "res extensa" (der ausgedehnten Sache - der Materie) und der "res cogitans" (der denkenden Sache - dem Geist). Wenn Weizsäcker (in einem Vortrag 1992 mit dem Titel "Die Philosophie eines Physikers") betonte: "Materie ist Information", kommt er nicht nur der konstruktivistischen Auffassung (s.o.) sehr nahe, sondern auch der schamanischen Auffassung von Materie und ihrer Beeinflussungsmöglichkeit. Er fasst als Ergebnis seiner Forschungen zusammen, dass es streng trennbare Objekte nicht gibt.

Der aktuelle Mainstream der wissenschaftlichen Psychologie in unseren Breiten ist freilich weithin neopositivistisch ausgerichtet und hat im Allgemeinen große Schwierigkeiten mit den transpersonalen Ansätzen. Wir Psycho-logen müssten eigentlich als Seelenkundige über den Atem des Lebens (ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes "psyche") besonders gut Bescheid wissen; wir sind uns aber nur einig, dass es (zur Unterscheidung z.B. von körperlichen) seelische Phänomene gibt, nicht aber, ob es überhaupt eine Seele gibt, und reden lieber von Persönlichkeit, emotionalen Erfahrungen etc.

Kommt jetzt die "Selbstaufklärung der Aufklärung", wie sie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer - als der Dialektik der Aufklärung immanent - postulierten?

"Verstand und Herz
müssen wieder zueinander finden.

Der Büffel hat mich hierher geschickt,
um Euch zu sagen,
was Ihr vielleicht vergessen habt"

Pablo Russel, Ältester und Medizinmann des Blackfoot-Blood-Stammes in Kanada